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Wenn ein Kind geboren wird, ist das erste Stillen viel mehr als nur Sattwerden. Das wissen viele Eltern,die das Stillen kennen. Was vielen, ja den meisten Eltern von Babys mit Down-Syndrom, am Start vermittelt wird, ist eine stereotype Meinung, die sich trotz permanenter Aufklärung wacker hält: »Kinder mit Down-Syndrom können nicht gestillt werden.« Doch viele Eltern kennen aus ihrer Erfahrung das Gegenteil, wenn auch das Stillen nicht immer auf Anhieb bzw. ohne Hürden klappt. Pia Müller, Autorin dieses Beitrags und Stillberaterin, ist eine von ihnen.

Ihre Tochter und sie haben über ein halbes Jahr gebraucht, bis sie das Stillen ohne jegliche Hilfsmittel genießen konnten. »Hätte mir das vorher jemand gesagt, dass so ein langer Weg möglich ist, ich hätte es wahrscheinlich nicht geglaubt.« Heute gibt Pia Müller ihre Erfahrungen und ihr Wissen an Familien weiter. Sie formuliert in diesem Artikel auch hilfreiche Anregungen für begleitende Fachpersonen.

Chromosomen, beides sollte recht sein, so ging es mir durch den Kopf. Noch ganz unter dem Eindruck der wunderschönen Geburt nahm ich mein Baby und ging ins Bett, um zu schlafen. Zu diesem Zeitpunkt funktionierte das Stillen noch sehr gut. Das Tal der Tränen aufgrund der Diagnosevermutung kam erst in den Tagen danach und auch erst, nachdem es mit dem Stillen sehr kompliziert geworden war.

Heute spielt die Tatsache, dass unsere Tochter das Down-Syndrom hat, emotional für uns keine Rolle mehr. Unsere Tochter ist einfach unser sehr geliebtes Kind und genau richtig, so wie sie ist, völlig unabhängig von ihrer Chromosomen-Anzahl.

Die erste Lebenswoche

Meine Tochter habe ich zu Hause geboren, wie schon zwei ihrer drei Geschwister vor ihr. Kurz nach der

Geburt und noch vor der U1-Untersuchung durch die Hebamme stillte ich meine Tochter zum ersten Mal. Ich war überglücklich, denn ich hatte mit meinen größeren Kindern auch schon andere Stillstarts nach der Geburt und in den ersten Tagen danach erlebt. Nachdem meine Freundin, die die Geburt fotografiert hatte, nach Hause gegangen war, setzte sich unsere Hebamme zu uns, um mit uns zu sprechen. Sie sagte, sie sei sich nicht sicher, jedoch sehe sie Anzeichen für eine Trisomie 21. Sie zeigte und erklärte uns die von ihr beobachteten Softmarker. Sie würde am Morgen die Kinderärztin informieren, um sich gemeinsam ein Bild zu machen. Unsere Hebamme handelte in diesem Moment sehr wertschätzend und liebevoll. Sie schilderte uns ihre Beobachtungen sachlich und unaufgeregt. Gleichzeitig hatte sie ein gutes Auge darauf, wie es mir und uns als Familie damit ging. Dadurch konnte ich die erste Verdachtsdiagnose direkt nach der Geburt gut annehmen. Ob 46 oder 47.

Nach einer kurzen Schlafpause hatte der Tag der Geburt allerdings noch einiges mit uns vor, u.a. einen ambulanten Besuch in der Kinderkardiologie, um zu überprüfen, wie es ihrem kleinen Herz ging. Dort hatte ich nur wenige Möglichkeiten zu sitzen und sie zu stillen. Wir hatten großes Glück und konnten im Anschluss an die Untersuchung wieder gemeinsam nach Hause gehen. In dieser ersten Lebenswoche war es sehr heiß und wir absolvierten noch mehrere außerplanmäßige Ausflüge in die Notfallambulanz der Klinik aufgrund von anderen medizinischen Auffälligkeiten, die erst einmal keinen Zusammenhang mit dem Down-Syndrom hatten. Das war für uns alle anstrengend und belastend. Hohe Bilirubin-Werte machten der kleinen Maus zusätzlich zu schaffen und sie entwickelte eine ausgeprägte sogenannte »Gelbsucht«. Dies führt u.a. manchmal dazu, dass Babys etwas schläfriger werden und weniger gut trinken. In den folgenden Tagen war sie zu schwach, um sie an der Brust zu stillen.

Die für das Down-Syndrom häufig typische Muskelhypotonie im Mundbereich zeigte sich auch sehr stark. Auch stillfreundliches Zufüttern per Becher funktionierte zu diesem Zeitpunkt nicht. Binnen kürzester Zeit wurde aus einem sehr fitten Neugeborenen in der Stunde nach der Geburt ein schlappes und schläfriges Baby.

Fingerfeeding und BES

Da die Milch irgendwie ins Kind musste, begann ich abzupumpen, um die Milchproduktion in Gang zu bringen. Wir Eltern entschieden dann, per Spritze in den Mund, über das sogenannte Fingerfeeding, zuzufüttern, da Becher, Löffel und andere stillfreundliche Fütterungsmethoden nicht glückten. Eine Magensonde konnten wir uns damals nicht vorstellen. Zu dem Zeitpunkt war ich noch sehr zuversichtlich, dass sich das Ganze binnen weniger Tage einspielen würde. Die Schläfrigkeit und das Fingerfeeding begleiteten uns dann allerdings für viele Monate, ebenso wie die Milchpumpe. Füttern war am Anfang quasi ein 24-Stunden-Job zwischen Milchpumpe, Spritze und Co, denn die kleine Maus konnte nur sehr langsam trinken. Fingerfeeding ist eine recht invasive Methode und wir setzten alles daran, um mögliche Alternativen zu versuchen, aber sie war einfach zu schwach und schläfrig zum Saugen.

Auch das Brusternährungsset (BES) kam zum Einsatz, mit dem stillfreundliches Zufüttern an der Brust häufig gelingen kann. Jedoch: Auch mit dieser Methode muss das Kind an der Brust bleiben, um über das BES zugefüttert zu werden. In den ersten Wochen gelang dies (noch) nicht.

Vielfältige Unterstützung

Wir hatten in dieser Zeit Unterstützung von Stillberaterinnen, Hebammen, anderen Müttern bzw. Eltern von Kindern mit Down- Syndrom. Für mich war auch die Betreuung durch eine Logopädin wichtig, um mögliche Auswirkungen des Fingerfeedings z.B. auf ihren Gaumen zu begleiten. Gleichzeitig bot ich meiner Tochter immer und immer wieder die Brust an, täglich mehrmals über viele Monate. Und ganz langsam, Schritt für Schritt, sind wir so tatsächlich zum Stillen gekommen.

Hätte mir das vorher jemand gesagt, dass so ein langer Weg möglich ist, ich hätte es wahrscheinlich nicht geglaubt. Nach 6,5 Monaten war der große Tag gekommen: Wir stillten voll ohne jegliche Hilfsmittel. Da auch das Thema Beikosteinführung aufgrund noch nicht vorhandener Beikostreifezeichen noch nicht zu dem Zeitpunkt beginnen konnte, genossen wir von da an endlich gemeinsam das Stillen. Vor allem der Austausch und die Gespräche mit anderen Eltern von schon älteren Kindern mit Down-Syndrom haben mir unglaublich viel Mut gemacht. Sie haben mir die Kraft gegeben, weiterzumachen und weiterhin daran zu glauben, dass wir es schaffen würden, ins (Voll-)Stillen zu kommen. Bei Babys mit Down-Syndrom lernt man vielleicht, mit der Zeit geduldiger zu sein. Vielleicht war dies unsere erste Lektion dieser Art, die uns noch häufiger im Leben hilfreich sein kann?

Meine ehrenamtliche Stillberatungspraxis

Für meine eigene ehrenamtliche Stillberatungspraxis habe ich in dieser Zeit viel gelernt. Ich habe angefangen, mich zu vernetzen, Fortbildungen zum Thema sog- und saugschwache/hypotone Babys zu besuchen, eine weitere, umfangreichere Stillberaterinnen-Ausbildung zu absolvieren und eine virtuelle Austauschgruppe zum Thema »Babys mit Down Syndrom stillen« gegründet. Mittlerweile bilden Stillberatungen für Schwangere oder Eltern von Babys mit Down-Syndrom einen recht großen Anteil meiner Stillberatungen. Ich wünsche mir, dass u.a. in der Austauschgruppe ein Raum entsteht, der anderen Frauen bzw. Familien in dieser Situation Mut macht und in dem sie fachlich fundierte Hilfe erhalten können.

Wir hatten großes Glück

Wenn ich auf unsere Geschichte schaue, hatten

wir großes Glück:

  • Wir haben eine wunderschöne Geburt erleben dürfen. Meine Tochter und ich bzw. wir als Familie wurden nach der Geburt nicht getrennt. Meine Tochter wurde nach der Geburt nicht auf die Neonatologie verlegt. Wir durften sogar nach etwas Überzeugungsarbeit nach dem ambulanten Besuch in der Klinik am ersten Lebenstag wieder gemeinsam nach Hause gehen.
  • Niemand hat uns entmutigt und versucht, uns weiszumachen, dass man Babys mit Down-Syndrom nicht stillen kann. In einer von der britischen Organisation »Positive about Down Syndrome (PADS)«* durchgeführten und regelmäßig stattfindenden Befragung von frisch gewordenen Müttern/Eltern von Babys mit Down-Syndrom finden sich dazu erschreckende Zahlen: 40 % der Befragten gaben 2022 an, dass ihnen medizinisches Fachpersonal gesagt habe, dass man Kinder mit Down-Syndrom nicht stillen könnte. Und das stellt bereits eine Verbesserung dar: In der Befragung aus dem Jahr 2021 gaben dies sogar 46 % der Befragten an. (Zur Sicherheit möchte ich dies auch an dieser Stelle unterstreichen: Das stimmt natürlich nicht!) Für Deutschland gibt es bisher noch keine vergleichbaren Zahlen. Es ist eines der Projekte, die ich mir für die Zukunft vorgenommen habe, diese Zahlen regelmäßig zu erheben – und hoffentlich auch die Begleitung von Familien mit Babys mit Down-Syndrom in dieser ersten Zeit zu verbessern.
  • Von den Menschen, die zuerst mit uns über die mögliche Diagnose Trisomie 21 gesprochen haben, wurde das Thema weder problematisiert noch haben sie verletzend über Menschen mit Down- Syndrom gesprochen. Viele Menschen haben uns zur Geburt unserer Tochter gratuliert (wenngleich wir auch Karten erhalten haben, die eigentlich in die Kategorie »Trauerkarte« gepasst hätten).
  • Als Stillberaterin wusste ich, wie wichtig es ist, in den ersten Tagen in die Milchbildung zu kommen, und hatte auch eine Milchpumpe zur Hand. Darüber hinaus haben wir sehr viel Unterstützung und emotionalen Zuspruch aus unserem Umfeld erhalten, professionelle Unterstützung zum Stillen und auch weit darüber hinaus. Unsere erste gemeinsame Zeit ist wahrscheinlich positiver verlaufen als in vielen anderen Fällen.

Selbstverständlich können meine Kontaktdaten gerne an Schwangere bzw. Familien mit Babys mit Down-Syndrom für Fragen rund um das Stillen weitergegeben werden.

BabysmitDownSyndromstillen@gmail.com

Ich freue mich auf den Austausch. Hier gibt es noch weitere Online-Beiträge von Pia.